MIDNIGHT MASS


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VON GOTT VERLASSEN

Der US-amerikanische Filmemacher Mike Flanagan ist kein unbekannter Name, wenn es um den gegenwärtigen Horrorfilm geht. So zeichnet dieser für mehrere, mindestens solide Horrorfilme der letzten Jahre verantwortlich. Darunter befinden sich originäre Stoffe wie STILL (OT: HUSH, 2016) und BEFORE I WAKE (2016), aber auch literarische Adapationen wie DAS SPIEL (OT: GERALD‘S GAME, 2017) und DOCTOR SLEEPS ERWACHEN (OT: DOCTOR SLEEP, 2019) – beides Verfilmungen von Stephen King-Romanen. Mike Flanagan ist aber auch der Schöpfer der beiden Netflix-Serien SPUK IN HILL HOUSE (OT: THE HAUNTING OF HILL HOUSE, 2018) und SPUK IN BLY MANOR (OT: THE HAUNTING OF BLY MANOR, 2020), deren Ursprung ebenfalls in literarischen Werken zu finden ist und von denen vor allen Dingen erstgenannte Serie einen regelrechten Hype erfahren hatte. Nun wurde mit MIDNIGHT MASS die neueste Horror-Serie von Mike Flanagan auf Netflix veröffentlicht.

Riley Flynn (Zach Gilford) muss eine vierjährige Haftstrafe absitzen, weil er unter Alkoholeinfluss Auto gefahren ist und einen Unfall verursacht hat, bei dem eine junge Frau ums Leben kam. Als die vier Jahre verstrichen sind, kehrt Riley zu seinem einstigen Heimatort zurück: Crockett Island. Eine kleine Insel, die vom Festland mehrere Meilen entfernt liegt und nur mit einer Fähre zu erreichen ist.

Riley wird zwar von seiner Mutter Annie Flynn (Kristin Lehman) sowie seiner ehemaligen Schulfreundin Erin Greene (Kate Siegel) willkommen geheißen, aber wirklich Zuhause fühlt er sich nicht in dieser Gemeinde, die er lange vor dem tragischen Unfall verlassen hatte und von der er sich in all den Jahren immer mehr entfremdet hat.

Doch nicht nur der verlorene Sohn ist in Crocket Island eingekehrt. Auch der junge Priester Paul Hill (Hamish Linklater) hat sich am selben Tag dorthin verirrt, um, wie er selbst sagt, für einige Zeit den gealterten Monsignor Pruitt zu vertreten und statt seiner die Predigten abzuhalten. Aber mit Riley und dem jungen Priester scheint noch etwas anderes die Insel betreten zu haben – etwas Finsteres. Zunächst ist es nur ein Gefühl. Doch schon bald geschehen unerklärliche Dinge; Wundersames wie Schreckliches, Göttliches wie Dämonisches.

Bildquelle: MIDNIGHT MASS (L to R) Zach Gilford as Riley Flynn and Kristin Lehman as Annie Flynn / © Eike Schroeter, Netflix 2021

STEPHEN KING UND PERSÖNLICHE DÄMONEN.

Auf dem Papier liest sich das so, als hätte die Geschichte ebenfalls aus der Feder von Stephen King stammen können. Und tatsächlich fühlt sich MIDNIGHT MASS – im positivsten Sinne – oft so an, als handele es sich um eine weitere Adaption eines Stephen King-Romans. Doch auch wenn das Schaffen von Stephen King mit Sicherheit einen großen Einfluss auf die Geschichte gehabt haben dürfte, so handelt es sich bei dieser Serie um einen originären Stoff.

MIDNIGHT MASS ist eine wahre Herzensangelegenheit von Mike Flanagan gewesen. Mehrere Jahre hat der Filmemacher diese Idee mit sich herumgetrafen. Immer wieder hat er in anderen seiner Filme kleine Easter Eggs eingebaut, die auf MIDNIGHT MASS verweisen, ohne dass eine Umsetzung aber jemals wirklich absehbar gewesen wäre. Erst mit dem Erfolg von SPUK IN HILL HOUSE und dem sich daran anschließenden Deal zwischen dem Filmemacher und Netflix sollte sich die Möglichkeit für eine Realisation ergeben.

MIDNIGHT MASS war vor allen Dingen eine Herzensangelegenheit für Mike Flanagan, weil dieser darin eigene Erfahrungen verarbeitet hat. Vor allen Dingen die Figur des Riley Flynn stellt eine Art „Avatar“ für ihn dar. Wie Riley wuchs Mike Flanagan in einer kleinen Stadt auf, wurde katholisch erzogen und war als Junge ein Ministrant in einer kleinen Kirche. Und ebenfalls wie Riley ist auch Mike Flanagan ein trockener Alkoholiker. In den sieben Folgen der Mini-Serie erzählt der Filmemacher eine sehr persönliche Geschichte.

Das macht sich u.a. auch darin bemerkbar, wie sie konzipiert ist. In erster Linie geht es nämlich nicht um das Grauen. In erster Linie geht es um die Figuren und ihre Schicksale, ihre Überzeugungen und ihre Beziehungen zueinander. Die Serie ist viel eher ein Kleinstadt-Drama im Mantel einer Horror-Serie oder umgekehrt.

Die Gemeinde wirkt wie eine echte Gemeinschaft. Alle kennen sich, es wird getratscht und es gibt Freundschaften wie Feindschaften. Und die einzelnen Figuren, ganz gleich ob Haupt- oder Nebenfiguren, fühlen sich irgendwie lebendig, fast schon natürlich an. Ganz so, als hätte jede von ihnen eine eigene Geschichte zu erzählen.

Bildquelle: MIDNIGHT MASS (L to R) Michael Trucco as Wade Scarborough, Samantha Sloyan as Bev Keane, Annarah Cymone as Leeza Scarborough, Rahul Abburi as Ali Hassan, Crystal Balint as Dolly Scarborough, Hamish Linklater as Father Paul, Alex Essoe as Mildred Gunning, Annabeth Gish as Dr. Sarah Gunning, and Matt Biedel as Sturge / © Eike Schroeter, Netflix 2021

DIE RUHE VOR DEM STURM.

Und zu erzählen bekommen die Figuren reichlich. Sie lernen sich gegenseitig (neu) kennen, genau so wie wir sie kennenlernen. Sie erzählen von sich und ihren Gefühlen, von dem was sie beschäftigt. Sie führen Diskussionen und streiten, sie versöhnen und vergeben sich. Dabei entstehen großartige, sehr tiefgreifende Dialoge (und Monologe) über Sucht und Verantwortung, Glaube und Existenz, Schuld und Sühne – und das ist für die Serie Fluch und Segen zugleich.

Denn während es auf der einen Seite durchaus interessant ist den Figuren bei ihren philosophischen Streitgesprächen zuzuhören, so sind die Dialoge mitunter doch etwas ausufernd, was die Geduld einiger Zuschauer:innen gewiss auf die Probe stellen dürfte. Auch drehen sich die Gespräche oft um die gleichen Themen, weshalb im Verlauf der sieben Folgen das Gefühl aufkommen kann, dass die Serie manchmal etwas auf der Stelle tritt.

Dieses Gefühl wird durch das generell langsame Erzähltempo noch einmal verstärkt. MIDNIGHT MASS ist ein waschechter Slow Burner, also eine Serie, die nur langsam Fahrt aufnimmt, sich nach und nach immer weiter zuspitzt und erst zum Ende hin den wahren Terror entfacht. Bis dahin vergeht aber viel Zeit und über die vorhandenen Längen können auch die wenigen Schockmomente und zum Glück seltenen Jump-Scares nicht hinwegtäuschen.

Dass die Serie Längen enthält heißt jedoch nicht, dass sie langweilig ist. Denn statt durch ein hohes Erzähltempo zeichnet sie sich durch eine dichte Atmosphäre aus. Eine kleine Gemeinschaft lebt auf einer kleinen Insel. Um sie herum meilenweit nichts als Wasser. Und plötzlich geschehen seltsame Dinge. MIDNIGHT MASS ist fast wie ein Kammerspiel, gepaart mit Gothic Horror- und Mystery-Elementen. Verstärkt wird die Atmosphäre durch das unterkühlte, düstere Bild und durch die Filmmusik, welche nie zu aufdringlich die nahende Bedrohung ankündigt.

Bildquelle: MIDNIGHT MASS Kate Siegel as Erin Greene / © Eike Schroeter, Netflix 2021

ENGE VERTRAUTE.

So wie sich Mike Flanagan auf seine Figuren, die Dialoge und die Atmosphäre verlässt, verlässt er sich ebenso auf vertraute Weggefährt:innen und das sowohl vor und als auch hinter der Kamera. So hat Kameramann Michael Fimognari bereits mehrere seiner Filme sowie die Serie SPUK IN HILL HOUSE bebildert und die Newton Brothers sind seit dem Film OCULUS (2013) für den Score jedes einzelnen Projekts zuständig gewesen. Und auch mit vielen der Schauspieler:innen hatte der Filmemacher bereits zusammengearbeitet. Am häufigsten standen wohl Henry Thomas, der hier Riley Flynns Vater spielt, sowie Mike Flanagans Frau Kate Siegel vor der Kamera. Diese Vertrautheit ist MIDNIGHT MASS anzumerken. Jede einzelne Leistung ist on point und trägt zur Qualität dieser Serie bei.

Letztendlich wirkt MIDNIGHT MASS vielleicht, als wäre es die Adaption eines verschollenen Meisterwerks von Stephen King. Und auch wenn Mike Flanagen auf den Pfaden des Stephen King wandelt, so hat die Serie auch etwas eigenständiges, etwas persönliches. Wenn man sich auf den Mystery-Anteil einlassen kann, von der Atmosphäre einfangen lässt und über so manche Längen hinwegsehen kann, dann bekommt man hier eine Serie, die bis zum Ende fesselnd ist und die auch über das Ende hinaus mit philosophischen Fragen beschäftigt. Und nicht zuletzt zeigte sich der „König des Horrors“ himself von dem Ergebnis begeistert. Welch größeres Lob kann es für einen waschechten Horror-Fan da schon geben?

MIKE FLANAGAN HAS CREATED A DENSE, BEAUTIFULLY PHOTOGRAPHED TERROR TALE THAT CLIMBS TO A HIGH PITCH OF HORROR BY THE 7TH AND LAST EPISODE.“ – STEPHEN KING

OT: MIDNIGHT MASS
VÖ: 24.09.2021 (Netflix)
Land & Jahr: USA, 2021
Regie: Mike Flanagan
Darsteller:innen: Zach Gilford, Kate Siegel, Hamish Linklater u.a.
Vertrieb: Netflix
Laufzeit: 7 Folgen à ca. 60-71 min
Freigabe: ab 16



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