Das Jahr 2022 ist nun schon einen ganzen Monat alt. Dennoch möchte ich in der Januar-Ausgabe von monthly shorts. noch einmal einen Blick auf das vergangene (Film-)Jahr werfen.
Obwohl 2021 auch weiterhin von der COVID-19-Pandemie geprägt war und es immer wieder zu abgesagten oder verschobenen Startterminen von heiß erwarteten Filmen gekommen ist, so gab es dennoch reichlich Filmfutter, um mehr als übersättigt über das Jahr zu kommen. Da war natürlich auch viel Murks dabei, wie etwa CONJURING 3 – IM BANN DES TEUFELS. Doch es gab auch grandiose Kinofilme, wie zum Beispiel DER RAUSCH mit einem großartig aufspielenden Mads Mikkelsen in der Hauptrolle oder das bildgewaltige Science Fiction-Epos DUNE. Aber auch die sehr gelungene Social Thriller-Neuauflage CANDYMAN sowie die literarische Romanverfilmung FABIAN ODER DER GANG VOR DIE HUNDE wären ebenfalls positiv hervorzuheben. Und selbst auf den Streamingdiensten wurde so manch sehenswerter Film veröffentlicht, wie beispielsweise der smarte und witzige Zeitschleifenfilm PALM SPRINGS, der atmosphärisch-düstere Horror-Geheimtipp THE EMPTY MAN oder der äußerst stylische Black Western THE HARDER THEY FALL.
Neben den Filmen, die ich erfreulicherweise bereits sehen durfte, gibt es aber auch eine schier endlose Masse an weiteren, sehr interessanten Veröffentlichungen und es war mir wahrlich unmöglich, auch nur ansatzweise alle Filme zu schauen, die auf meiner Watch-List standen. Darunter befinden sich Filme, wie: MINARI – WO WI WURZELN SCHLAGEN (OT: MINARI), NOMADLAND, PROMISING YOUNG WOMAN, JUDAS AND THE BLACK MESSIAH, NOBODY, THE HOUSE AT NIGHT (OT: THE NIGHT HOUSE), THE GREEN KNIGHT, LAST NIGHT IN SOHO, SEITENWECHSEL (OT: PASSING), PIG, TED BUNDY – NO MAN OF GOD (OT: NO MAN OF GOD), THE POWER OF THE DOG und viele, viele mehr.
Damit ich aber nicht allzu viel Ballast aus dem alten Jahr mit mir herumschleppen muss und ich mich getrost auch den 2022 angekündigten Filmen widmen kann, hatte ich mir vorgenommen, zumindest einen kleinen Teil meiner langen Liste abzuarbeiten. Und möglicherweise ist es der einen oder anderen Person ähnlich wie mir ergangen, so dass vielleicht die eine oder andere nachstehende (Kurz-)Review dazu anregen kann, den einen oder anderen Film vor dem Vergessen zu bewahren und noch nachträglich zu sichten.
Nachfolgend findet ihr die Reviews zu folgenden Filmen: THE HOUSE AT NIGHT, SEITENWECHSEL, PIG, PROMISING YOUNG WOMAN und LAST NIGHT IN SOHO.
Viel Spaß beim Stöbern!

THE HOUSE AT NIGHT
OT: THE NIGHT HOUSE | Land & Jahr: USA, UK, 2020 | Regie: David Bruckner | Darsteller:innen: Rebecca Hall, Sarah Goldberg, Even Jonigkeit u.a. | Freigabe: ab 16 Jahren | Laufzeit: ca. 107 min | Abo (Stand: 31.01.2022): Disney+, Sky
Nachdem sich ihr Mann Owen (Evan Jonigkeit) selbst das Leben genommen hat, ist Beth (Rebecca Hall) mental völlig am Ende. Und als sich plötzlich mitten in der Nacht in ihrem Haus seltsame Dinge ereignen, droht sie den Verstand zu verlieren. Es ist, als fühle sie eine Präsenz. Ist es etwa der Geist ihres Mannes? Und versucht dieser ihr etwas mitzuteilen? Oder bildet sie sich alles nur ein?
Es ist ein schmaler Grat, auf dem sich die Drehbuchautoren Ben Collins und Luke Piotrowski sowie Regisseur David Bruckner hier bewegen. Denn auf der einen Seite klingt das Ganze zunächst ziemlich vertraut. THE HOUSE AT NIGHT (OT: THE NIGHT HOUSE) scheint auf dem ersten Blick nicht viel mehr als die x-te Variation des Spukhausfilms zu bieten. Doch glücklicherweise kristallisiert sich hier recht bald ein psychologischer Horrorfilm heraus, der subtil geschrieben, stilsicher inszeniert und klasse gespielt ist.
Die beiden Drehbuchautoren Ben Collins und Luke Piotrowski haben sich eine wirklich feine Horrorgeschichte erdacht, die zwar mit altbekannten Genre-Tropes spielt und sich ihrer Wurzeln stets bewusst ist, der aber auch die nötige psychologische Tiefe verliehen wurde, um neue, ganz eigene Akzente zu setzen.
Der Film wird dabei von der grandiosen Leistung Rebecca Halls getragen, die hier als Hauptdarstellerin eine ganze Palette an mitunter gleichzeitig ablaufenden Emotionen zu spielen hat. Der Weg, den ihre Figur gehen muss, ist ein Weg voller Leid und Schmerz. Und dank der natürlichen und glaubwürdigen Performance von Rebecca Hall, wird all dieses Leid und all der Schmerz für das Publikum förmlich selbst spürbar. Man fühlt ihre Trauer, ihre Wut, ihre Verzweiflung.
Nach seinem Netflix-Horrorfilm THE RITUAL hat Regisseur David Bruckner nun mit seinem zweiten Langspielfilm THE HOUSE AT NIGHT definitiv bewiesen, dass er sich im Horror-Genre bestens auskennt und genau weiß, welche Hebel er bedienen und welche Knöpfe er drücken muss, um dem Publikum nicht nur einen Schauer über den Rücken zu jagen, sondern um die Zuschauer:innen auch emotional an die Handlung und die Figuren zu binden. Und ich für meinen Teil bin schon sehr gespannt, was er mit der für 2022 angekündigten Neuauflage von HELLRAISER auf die Beine stellen wird.

BEWERTUNG
Letterboxd: 4 von 5
Moviepilot: 8 von 10 (Ausgezeichnet)

SEITENWECHSEL
OT: THE NIGHT HOUSE | Land & Jahr: USA, UK, 2020 | Regie: David Bruckner | Darsteller:innen: Rebecca Hall, Sarah Goldberg, Even Jonigkeit u.a. | Freigabe: ab 12 Jahren | Laufzeit: ca. 107 min | Abo (Stand: 31.01.2022): Netflix
Dass Rebecca Hall nicht nur eine sehr gute Schauspielerin ist, sondern offenbar auch das Handwerk hinter der Kamera beherrscht, konnte sie mit ihrem Netflix-Film SEITENWECHSEL (OT: PASSING) unter Beweis stellen, mit dem sie ihr Debüt als Regisseurin und Drehbuchautorin abgegeben hat.
In dem künstlerisch anspruchsvollen Drama, welches in den 1920er Jahren spielt, begegnen sich zwei Frauen, die sich seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen haben. Beide Frauen sind zwar Afroamerikanerinnen, besitzen jedoch eine etwas hellere Hautfarbe. Während Irene (Tessa Thompson) mit ihrem Mann in Harlem lebt und sich um die Organisation von Veranstaltungen für die Schwarze Community kümmert, verbirgt Clare (Ruth Negga) ihre Afroamerikanischen Wurzeln und lebt als Weiße mit einem rassistischen Ehemann zusammen. Dieses unverhoffte Wiedersehen scheint in Irene und Clare etwas auszulösen, so dass sich bald darauf beide Frauen in einer Identitätskrise wiederfinden.
PASSING basiert auf dem 1929 erschienen, gleichnamigen Roman von Nella Larsen und verhandelt, ebenso wie die literarische Vorlage, die Schicksale zweier Afroamerikanerinnen, die mit ihrer Identität im Konflikt stehen. Zentral geht es dabei um die Hautfarbe und damit verbunden um die Zugehörigkeit zu einem bestimmt definierten Teil der Gesellschaft. Darüber hinaus offenbart sich aber, dass sie auch anderweitig vorgeben etwas zu sein, das sie jedoch Grunde vielleicht gar nicht sind: glücklich verheiratet, glückliche Mütter, glücklich im Leben. Durch das unverhoffte Wiedersehen wird Irene und Clare deutlich, dass ihnen selbst etwas zu fehlen scheint, was die jeweils jedoch vermeintlich zu haben scheint.
Dabei werden zumeist nur vage Andeutungen gemacht. Vieles von dem, was in den Figuren vor sich geht, muss in ihrer Mimik, ihrer Gestik, ihren Taten abgelesen werden. Dadurch wird viel Spielraum für Interpretationen gelassen. Glücklicherweise wurden mit Tessa Thompson und Ruth Negga zwei kompetente Schauspielerinnen gecastet, die mit viel Feingefühl die komplexe Gefühlswelt ihrer Figuren transportieren.
Irene und Clare stecken in Schubladen fest. Die Welt – ihre Welt – ist ausschließlich Schwarz oder Weiß und das sowohl wort- als auch sprichwörtlich. Doch ist diese Dichotomie viel zu simpel für eine komplexe Welt, bestehend aus unterschiedlichen Grautönen. Wie kann eine Frau da sie selbst, glücklich und frei sein, wenn sie von allen anderen, aber vor allen Dingen auch von sich selbst, einer bestimmten Kategorie zugeordnet wird? Eine Identitätskrise erscheint da zwangsläufig vorprogrammiert.
Unterstrichen wird dieses Spiel mit den Gegensätzen Schwarz und Weiß sowie den dazwischen liegenden Grautönen durch das Bild. Gedreht wurde der Film nämlich im Format 4:3 in Schwarz-Weiß. Das ist zum einen das für damalige Kinofilme übliche Bildformat, wodurch schon alleine durch die Optik eine Verbindung zu den 1920er Jahren hergestellt wird. Zum anderen kann das Format aber auch als Metapher gelesen werden: 4:3 ist fast quadratisch, nahezu verschachtelt, einengend – ebenso wie unser Schubladendenken. Und durch das Schwarz-Weiße Bild – beziehungsweise monochrom, um genau zu sein – wird den Charakteren jegliche Farbe aus dem Gesicht genommen. Der Unterschied zwischen einer Afroamerikanerin mit einer etwas helleren Hautfarbe und einer weiß geschminkten Afroamerikanerin wird dadurch kaum noch sichtbar.
Dieses Motiv, dieses Spiel zwischen Schwarz und Weiß, Hell und Dunkel, Farbe und Farblosigkeit, begleitet uns bis zum tragischen Ende des Films – und darüber hinaus. Denn PASSING ist zwar ein ruhig erzähltes Filmdrama, aber eben auch eines jener Sorte, das, wenn man sich auf die Erzählweise einlassen kann, noch lange über den Abspann hinaus nachwirkt.

BEWERTUNG
Letterboxd: 4 von 5
Moviepilot: 8 von 10 (Ausgezeichnet)

PIG
OT: PIG | Land & Jahr: USA, 2021 | Regie: Michael Sarnoski | Darsteller:innen: Nicolas Cage, Alex Wolff u.a. | Freigabe: FSK 16 | Laufzeit: ca. 92 min | Abo (Stand: 31.01.2022): –
Robin „Rob“ Feld (Nicolas Cage) lebt zurückgezogen in einer Hütte im Wald. Einzig und allein ein Trüffelschwein leistet ihm Gesellschaft. Nur einmal in der Woche stattet ihm der junge, aufstrebende Geschäftsmann Amir (Alex Wolff) einen kurzen Besuch ab. Amir bekommt die Trüffel, die Rob gesammelt hat und im Gegenzug bekommt Rob einige dringend benötigte Waren aus der Stadt.
Eines Nachts wird bei Rob jedoch eingebrochen und dessen Schwein entführt, woraufhin sich dieser auf die Suche nach den Leuten begibt, die die Entführung in Auftrag gegeben haben. Sein Weg führt ihn dabei zurück in die Gourmet-Szene von Portland, der er einst den Rücken gekehrt hat.
Ob dieser kurzen Inhaltsangabe könnte man sicherlich einen Rache-Thriller à la JOHN WICK vermuten und die Parallelen scheinen auch erst einmal auf der Hand zu liegen. Einem Mann wird sein geliebtes Tier genommen und er begibt sich auf die Suche nach denjenigen, die für diesen Verlust verantwortlich sind. Beide Männer haben ihre Vergangenheit hinter sich gelassen, um ein neues Leben anzufangen. Und beide sehen sich dazu gezwungen in eine Welt zurückzukehren, die nach ihren eigenen Regeln funktioniert.
Wer nun aber eine Art JOHN WICK mit entführtem Trüffelschwein erwartet, für den:die dürfte PIG vermutlich eine Enttäuschung darstellen. Oder vielleicht doch eine positive Überraschung? Denn im Gegensatz zu JOHN WICK ist PIG kein ultra-brutaler Actionfilm und anders als Keanu Reeves sinnt Nicolas Cage hier auch nicht auf Rache. PIG ist ein ruhiges, trauriges und zutiefst menschliches Drama rund um das Thema Verlust, das von scharfsinnigen und tiefgründigen Dialogen, einem wunderbar zurückhaltenden Nicolas Cage sowie der Chemie zwischen ihm und Alex Wolff getragen wird.

BEWERTUNG
Letterboxd: 4,5 von 5
Moviepilot: 9 von 10

PROMISING YOUNG WOMAN
OT: PROMISING YOUNG WOMAN | Land & Jahr: USA, 2020 | Regie: Emerald Fennell | Darsteller:innen: Carey Mulligan, Bo Burnham u.a. | Freigabe: FSK 16 | Laufzeit: ca. 114 min | Abo (Stand: 31.01.2022): –
Was würdest du tun, wenn du in einer Bar oder in einem Club eine Person siehst, die offenbar betrunken ist? Würdest du sie ansprechen? Ihr deine Hilfe anbieten?
Was wäre, wenn du diese offenbar betrunkene Person attraktiv finden würdest? Wenn sie obendrein „aufreizend“ oder „sexy“ gekleidet wäre? Würdest du sie ansprechen? Ihr unter einem bestimmten Vorwand deine Hilfe anbieten?
Was würdest du tun, wenn diese attraktive, aufreizend gekleidete, offenbar betrunkene Person ihr Handy verloren hätte? Wenn sie sich nicht abholen lassen, sich kein Taxi rufen könnte? Würdest du ihr dein Handy anbieten? Oder selbst ein Taxi rufen? Für sie? Für dich? Für euch?
Was würdest du tun, wenn diese attraktive, aufreizend gekleidete, offenbar betrunkene Person kaum noch stehen, kaum noch alleine laufen kann? Würdest du sie bis zum Taxi begleiten? Bis nach Hause? Zu ihr? Zu dir?
Was, wenn ihr zu Hause angekommen seid? Bei ihr. Bei dir. Würdest du diese attraktive, aufreizend gekleidete, offenbar betrunkene Person noch auf einen letzten Drink einladen? Auf einen Absacker? Einen Schlummertrunk?
Und was wäre, wenn diese attraktive, aufreizend gekleidete, offenbar betrunkene Person dann einfach einschlafen würde? Wenn sie völlig weggetreten wäre? Nichts mehr mitbekommen würde? Wenn kein „Nein“, keine Gegenwehr zu erwarten wäre? Was würdest du tun?
Alle paar Tage geht Cassie (Carey Mulligan) in eine Bar, einen Club, zieht sie sich aufreizend an, tut so, als ob sie sturzbetrunken wäre. Jedes Mal wird sie von einem „netten Kerl“ angesprochen, der ihr unter einem bestimmten Vorwand seine Hilfe anbietet. Ihr ein Taxi ruft. Sie nach Hause bringt. Zu ihr. Zu sich. Ihr einen letzten Drink anbietet. Sich mehr erhofft. Und ein undeutlich dahin gelalltes „Nein“ ignoriert. Und jedes Mal lässt Cassie, in dem Moment der höchsten Anspannung, die Maske fallen. Ist auf einmal wieder stocknüchtern. Und konfrontiert die „netten Kerle“ mit dem, was sie gerade vorhatten zu tun.
Was sich aus dieser Prämisse entspinnt, ist eine Rachegeschichte der besonderen Art. Denn warum Cassie tut, was sie tut, hat einen Grund und dieser ist in ihrer Vergangenheit zu finden. Dabei ist das, was sich auf dem Bildschirm abspielt, zunächst unvorhersehbar und vor allen Dingen unberechenbar, was nicht zuletzt daran liegt, dass sich „Racheengel“ Cassie stets in Situationen begibt, die auch für sie selbst eine verheerende Wendung nehmen könnten. Erst ab etwa der Hälfte schlägt der Film eine Richtung ein, von der man erahnen kann, wie es weiter- und vor allen Dingen ausgehen könnte. Wobei es selbst dann nie so wirkt, als würde Drehbuchautorin und Regisseurin Emerald Fennell lediglich das kleine dramaturgische Einmaleins befolgen. Ohnehin ist es erstaunlich, was für ein Langfilmdebüt Emerald Fennell mit PROMISING YOUNG WOMAN vorgewiesen hat. Nicht ohne Grund gab es hierfür neben anderen Preisen auch den Oscar für das beste Originaldrehbuch.
Aber einen Großteil seiner Wucht hat der Film mit Gewissheit auch seiner Hauptdarstellerin Carey Mulligan zu verdanken, die hier wirklich alles in ihre Rolle zu geben scheint.
PROMISING YOUNG WOMAN ist zwar ein Film über ein Einzelschicksal, allerdings nutzt er dieses Einzelschicksal als Projektionsfläche, um anhand dessen tief in unserer patriarchalen Gesellschaft verwurzelte Strukturen aufzuzeigen. Natürlich ist das, was hier gezeigt wird, zumeist höchst ambivalent. Cassie greift zu einigen Methoden und Maßnahmen, welche die Grenzen der Moral (und mitunter die des Gesetzes) überschreiten. Allerdings scheint ihr Verhalten wiederum eine Reaktion zu sein, die ihrer Verzweiflung und ihrer Wut entsprungen ist. Eine Verzweiflung und eine Wut, die gewiss die Verzweiflung und die Wut vieler Frauen repräsentieren dürfte. PROMISING YOUNG WOMAN ist das auf digitales Zelluloid gebannte, unüberhörbare „Nein“, das eben jene Verzweiflung und Wut zum Ausdruck bringt.

BEWERTUNG
Letterboxd: 4 von 5
Moviepilot: 8 von 10 (Ausgezeichnet)

LAST NIGHT IN SOHO
OT: LAST NIGHT IN SOHO | Land & Jahr: USA, 2021 | Regie: Edgar Wright | Darsteller:innen: Thomasin McKenzi, Anya Taylor-Joy u.a. | Freigabe: FSK 16 | Laufzeit: ca. 117 min | Abo (Stand: 31.01.2022): –
„There‘s no Business like Show Business.“ Dass dieser Satz sich – entgegen seiner ursprünglichen Bedeutung – nicht nur auf all den Glamour bezieht, der im Show-Geschäft stets mit großer Leuchtschrift nach außen hin präsentiert wird, sondern dass er auch all das Schreckliche, Dunkle, Unaussprechliche, was hinter den Kulissen geschieht, ebenfalls mit meint, muss Eloise „Ellie“ Turner (Thomasin McKenzie) bald erfahren.
Die junge Frau zieht vom Lande nach London, um dort an einer Kunsthochschule zu studieren und somit ihrem Traum nachzugehen, eine Mode-Designerin zu werden. Allerdings erlebt sie auch sogleich einen großen Kulturschock – die Hektik der Großstadt, zwielichtige Gestalten, hochnäsige Kommiliton:innen.
Um sich etwas rauszunehmen, bezieht Ellie ein Zimmer im Dachgeschoss in dem Haus einer älteren Dame. Jedoch wird sie in ihrer neuen Bleibe von seltsamen Träumen heimgesucht, die sie ab sofort jede Nacht in das London der 60er Jahre entführen.
In ihren Träumen sieht sie die junge, talentierte Sängerin Sandie (Anya Taylor-Joy), die versucht in der Londoner Swing-Szene Fuß zu fassen. Zunächst ist Ellie fasziniert von Sandie, sie wird gar völlig von ihr vereinnahmt. Doch bald muss sie erkennen, dass der Schein trügt. Denn Talent bedeutet nicht automatisch, dass man auch erfolgreich wird. Viel eher scheinen gewisse „Gegenleistungen“ und „Gefälligkeiten“ erforderlich zu sein, um überhaupt auf der Bühne stehen zu dürfen. Traum und Realität verwischen zusehends. Und als Ellie einen Mord in der Vergangenheit beobachtet, droht sie bald völlig den Verstand zu verlieren.
Nachdem Regisseur Edgar Wright bereits unter Beweis stellen konnte, dass er ein Händchen für bissige Comedy (HOT FUZZ) und leichtfüßige Action (BABY DRIVER) hat, hat er sich nun im Thriller-Gefilde ausprobiert und hierfür eine Art Geistergeschichte erdacht, für die er gemeinsam mit seiner Co-Autorin Krysty Wilson-Cairns das Drehbuch geschrieben hat.
Die große Stärke von LAST NIGHT IN SOHO liegt vor allen Dingen darin, wie er uns in die Welt der Mode sowie in das London der 60er Jahre einführt. Es fühlt sich fast ein wenig so an, als würde man zwischen diesen beiden Welten traumwandeln. Aber auch der Moment, wenn die Stimmung in dem Film kippt und die glänzende Fassade erste Risse bekommt, ist wirklich stark.
Nur wenn der Film die Grenze zum Horror überschreitet, scheint Edgar Wright etwas überfordert damit zu sein, wirklichen Grusel und Nervenkitzel aufkommen zu lassen. Zumeist ist ihm nicht mehr eingefallen, als Thomasin McKenzie überreagieren zu lassen, die oft panisch quer durch London und vor Autos läuft.
Der Film wird meistens dann unheimlich, wenn er nicht auf Action und Adrenalin setzt, sondern wenn er die Gegensätze zwischen Scheinwerferlicht und Schattenseite darstellt. Auch in jenen Momenten in denen deutlich wird, dass sich das Mindset seit den 60er Jahren kaum geändert zu haben scheint, die Vergangenheit stattdessen nun als „Goldene Zeit“ verklärt wird und die Gräuel vergessen scheinen, läuft es einem kalt den Rücken runter.
Doch auch wenn sich Edgar Wright manchmal schwer damit tut, Grusel und Spannung zu erzeugen, so hat er dennoch ein Gespür für Bildsprache und Sounddesign. LAST NIGHT IN SOHO sieht wirklich unheimlich toll aus und der verträumt-verzerrt-verstörende Soundtrack sowie die generelle akustische Ausgestaltung sind einfach genial. Das und die zugrundeliegende Thematik sorgen dafür, dass LAST NIGHT IN SOHO immer noch ein sehenswerter Film ist, auch wenn er die Erwartungen gewiss nicht ganz erfüllen kann.

BEWERTUNG
Letterboxd: 3,5 von 5
Moviepilot: 7 von 10 (Sehenswert)