Die Geschichte eines Moralisten.
Berlin, Gegenwart. Eine U-Bahn kommt am Gleis zum Stehen. Leute steigen ein und aus. Es herrscht ein reges Treiben. Und wir mittendrin. In Schlängellinien durch die Massen hindurch. Von einem Ende des U-Bahnsteigs zum anderen. Richtung Ausgang. Wir tauchen auf. Über dem Geländer gebeugt steht ein junger Mann. Unter ihm hängt an der Wand ein Plakat. Darauf ganz präsent: Ein Hakenkreuz. Die Zeit ist verwischt. Wir sind in Berlin. Im Jahr 1931.
Innerhalb dieser ersten Szene wird bereits deutlich, was der Film FABIAN ODER DER GANG VOR DIE HUNDE will. Er erzählt eine Geschichte über die deutsche Geschichte. Eine Geschichte von damals, neu adaptiert, aus heutiger Perspektive. Eine Geschichte über das Nach- und Auswirken unserer historischen Geschichte auf unsere Gegenwart, auf uns als Gesellschaft.
Der junge Mann, den wir dort über dem Geländer gebeugt sehen, ist Fabian (Tom Schilling). Jakob Fabian ist sein voller Name. Doch alle nennen ihn nur Fabian. Fabian ist jung und gebildet, voller Sehnsucht und voller Ideale. Ein Moralist in einer zunehmend unmoralischen Welt.
Des Nachtens gibt er sich dem Vergnügen hin. Die Stadt pulsiert. Alle betäuben sich, wo sie nur können. Sodom und Gomorrah. Willkommen in Babylon Berlin. Willkommen in der Sündenstadt. Doch Fabian möchte mehr, als das immer selbe Unverfängliche. Und so kommt es, dass er sich eines abends verliebt. In die selbstbewusst und selbstbestimmt auftretende Cornelia (Saskia Rosendahl). Er, sein bester Freund Labude (Albrecht Schuch) und Cornelia verbringen fortan viel Zeit zusammen.
Aber die schöne Zeit verfliegt zu schnell und die Realität holt sie bald wieder ein. Labude steht aufgrund seiner lautstarken, politischen Äußerungen unter Beobachtung, Fabian bekommt die Finanzkrise zu spüren und Cornelias Wunsch nach einer Schauspielkarriere ist vom „guten Willen“ eines widerlichen Filmproduzenten abhängig. Kurzum: Die Gesellschaft und das Leben der Drei drohen vor die Hunde zu gehen.

Ich muss gestehen, dass ich ursprünglich einen anders gearteten Film erwartet hatte. Vielleicht etwas mehr in die Richtung von WERK OHNE AUTOR (2018, R: Florian Henckel von Donnersmarck). Oberflächlich betrachtet schien zunächst vieles dafür zu sprechen. Beide Filme weisen eine epochale Laufzeit von knapp drei Stunden auf. In beiden Filmen ist Tom Schilling in der Hauptrolle zu sehen. Und in beiden Filmen wird die deutsche Geschichte sowie deren Wirkung auf die Gegenwart verhandelt. Aber abgesehen davon unterscheiden sich die beiden Filme sehr voneinander. Denn da wo WERK OHNE AUTOR so anmutet, als hätte Florian Henckel von Donnersmarck auf Biegen und Brechen das ganz große Kino auf die Leinwand zu bringen versucht – was ihm zum Großteil auch gelingen sollte – wirkt Dominik Grafs FABIAN ODER DER GANG VOR DIE HUNDE erfrischen originell.
Die verspielte Montage schneidet unbekümmert zwischen hochauflösenden Bildern, von Bildstörungen durchsetzten Aufnahmen und mitunter dokumentarischem Material hin und her und springt damit durch die Zeit der (Film-)Geschichte. Der Film atmet die Luft der Avantgarde, des Theaters, des Kabarett. Das wirkt zwar gewollt künstlerisch, aber nie zu sehr aufgesetzt.
Aus dem Off spricht immer wieder eine Stimme zu uns. Mal die eines Erzählers, mal die einer Erzählerin. Sie kommentieren und beschreiben, erklären und führen uns durch die Handlung. Es ist, als würde man durch den Roman von Erich Kästner blättern und hätte dabei das Geschriebene als Bild direkt vor Augen.
Stilistisch und erzählerisch dürfte der Film gewiss nicht allen zusagen. Und auch ich fragte mich während der ersten Minuten, ob ich mich mit diesem Stil anfreunden könne. Aber letztendlich gilt auch hier: Insofern man sich darauf einlassen kann, wird man sich auch daran gewöhnen.

Woran man jedoch gleich Vergnügen finden wird, ist die Spielfreude, mit welcher die Darsteller:innen ans Werk gehen. Tom Schilling hat sich ohnehin spätestens seit OH BOY (2012, R: Jan-Ole Gerster) in mein Herz gespielt und die Rolle des verträumten Idealisten scheint ihm einfach wie auf den Leib geschrieben zu sein. Aber auch die Nebenrollen sind allesamt gut besetzt, wobei vor allen Dingen Saskia Rosendahl als Cornelia sowie Albrecht Schuch als Labude über jeden Zweifel erhaben sind.
Zudem gelingt es Regisseur Dominik Graf besonders gut, die Bedrohung des aufkeimenden Nationalsozialismus aufzuzeigen. Dieses Gedankengut setzt sich in den Köpfen der Menschen fest, vergiftet ihre Herzen und verbreitet sich wie ein Virus. Die Figuren ahnen noch nicht, welche Gefahr ihnen dadurch eigentlich droht. Nur wir wissen, welches Leid noch folgen soll.
Interessanterweise erschien Erich Kästners Roman 1931 in einer gekürzten Fassung. In dieser Version mit dem Titel FABIAN und dem Zusatz DIE GESCHICHTE EINES MORALISTEN. Erst 2013 wurde die ungekürzte Fassung des Romans unter dem von Erich Kästner ursprünglich sogar angedachten Titel DER GANG VOR DIE HUNDE veröffentlicht. Der Titel des Films stellt somit eine Zusammensetzung dieser beiden Buchtitel dar und schlägt eine Brücke zwischen der gekürzten und der ungekürzten Version. Zum einen wird damit indirekt auf den zeitgeschichtlichen Kontext verwiesen. Zum anderen könnte dies als Metakommentar auf die Zensur von Kunst sowie die Bedeutung einer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft gelesen werden. Wodurch die Bedeutung des Films selbst noch einmal unterstrichen wird. Denn er erzählt zwar vom Gestern, aber aus der Sicht von Heute und ist dabei aktueller denn je.
Pflichtlektüre für die, die nicht vergessen wollen.
OT: FABIAN ODER DER GANG VOR DIE HUNDE
VÖ: 05.08.2021 (Kinostart)
Land & Jahr: GER, 2021
Regie: Dominik Graf
Darsteller:innen: Tom Schilling, Saskia Rosendahl, Albrecht Schuch u.a.
Vertrieb: DCM
Laufzeit: ca. 176 min
Freigabe: FSK 12
Ein Gedanke zu “FABIAN ODER DER GANG VOR DIE HUNDE”